Die Elektromyostimulation (EMS) erfreut sich in den letzten Jahren einer immer größeren Beliebtheit. Kurze Trainingseinheiten sollen ausreichen, um gleiche Effekte zu erzielen, wie beim herkömmlichen Krafttraining mit Hanteln – so die Werbeversprechungen. Das ist reizvoll und passt in den meist straffen Zeitplan des modernen Alltags. Die Applikation von Strom über die Haut ist jedoch alles andere als neu. Schon im Jahr 46 nach Christus setzte der römische Arzt Seribonius Largus den von Zitterrochen generierten Strom ein, um Kopfschmerzen und Gicht seiner Patienten zu behandeln (Finger & Piccolino, 2011). In Russland begann man in den 1960er Jahren damit, die elektrische Aktivierung der Muskulatur an Athleten zu testen (Ward & Shkuratova, 2002). Seit diesen frühen Versuchen ist viel Zeit vergangen und die Geräte haben sich kontinuierlich weiterentwickelt. Das betrifft insbesondere das verwendete Elektrodenmaterial und die Möglichkeit über spezielle Kleidung und Geräte den Strom auf mehrere Muskelgruppen gleichzeitig zu applizieren. Dies hat die Praktikabilität der Anwendung deutlich verbessert und trägt sicherlich zu dem in den letzten Jahren zu verzeichnenden Erfolg von EMS bei.
Skeptiker sehen im EMS-Training allerdings eine unnatürliche und damit auch potenziell gefährliche Trainingsform. Aussagen wie „das kann einfach nicht gesund sein“ hört man häufig in diesem Zusammenhang. Darüber hinaus wird immer wieder angezweifelt, dass die so hervorgerufenen Kontraktionen tatsächlich in der Lage sind biopositive Anpassungserscheinungen hervorzurufen. Ziel dieses Artikels ist es daher einige Informationen zum Nutzen und Risiko des EMS-Trainings zusammenzutragen.
Hintergründe
Die elektrische Stimulation der Muskulatur führt zu einer unwillkürlichen Kontraktion der aktivierten Muskelfasern. Diesen Zusammenhang erkannte schon Luigi Galvani im 18. Jahrhundert bei seinen frühen Versuchen an Froschschenkeln. Er nutzte unter anderem die Elektrizität von Gewitterblitzen, um die Froschmuskulatur zur Kontraktion zu bringen (Bresadola, 1998). Die Nervenfasern der Froschschenkel verband er dafür mit einer Art Blitzableiter (siehe Abb. 1). Glücklicherweise ist man bei der heutigen Form des EMS-Trainings nicht mehr auf die Lichtbögen zwischen Wolken und Erde angewiesen, deren elektrische Energie bei mehreren Milliarden Joule liegt. Die zum EMS-Training eingesetzten Geräte arbeiten mit Energien, die so niedrig sind, dass sie für den menschlichen Körper in der Regel ungefährlich sind. Ausnahmen davon bilden bestimmte Bedingungen, bei denen man aufgrund der fehlenden Studienergebnisse sicherheitshalber von einem EMS-Training Abstand nehmen sollte. Dazu gehören unter anderem eine Versorgung mit Herzschrittmacher oder beispielsweise eine Schwangerschaft.
EMS-induzierte Muskelschädigungen
In der Presse finden sich jedoch immer wieder Berichte von massiven Muskelschädigungen, die bei vermeintlich gesunden Personen durch ein EMS-Training ausgelöst wurden und im Krankenhaus behandelt werden mussten, um lebensbedrohliche Folgeschäden für innere Organe abzuwenden. Insbesondere das akute Nierenversagen wird in diesem Zusammenhang befürchtet, welches durch die Anflutung von Muskelzerfallsprodukten ausgelöst werden kann. So berichtete beispielsweise im letzten Jahr Spiegel Online über eine 48-jährige Frau, die nach einem EMS-Training über Kreislaufprobleme, Herzrasen und Schmerzen in der Brust geklagt hatte (Habich, 2015). Die Dame war, den Angaben von Spiegel Online zufolge, über mehrere Tage nicht in der Lage aufzustehen und erhielt im Krankenhaus mehrere Infusionen zum Schutz ihrer Nieren. Diagnose: Rhabdomyolyse – die schädigungsinduzierte Auflösung von Muskelfasern. Wie ist dieses Risiko einzuschätzen?
Muskelschädigungsmarker und die Crush-Niere
Das Ausmaß einer muskulären Schädigung wird in der Klinik meist indirekt über sogenannte Muskelschädigungsmarker abgeschätzt. Bei diesen Markern handelt es sich um Enzyme und andere Proteine, die aufgrund ihrer Molekülgröße das Zellinnere der Muskelfasern nicht verlassen können. Kommt es jedoch zu einer Schädigung der Muskelzellmembran, so gelangen diese Stoffe in den Extrazellularraum und von dort entweder direkt oder über das Lymphsystem in den Blutkreislauf. Das Enzym Kreatinkinase (Creatine Kinase; CK) gilt dabei als sensitivster Marker einer Rhabdomyolyse. Belastbare Grenzwerte für die Aktivität von CK im Blut existieren zwar nicht, dennoch versuchen einige Autoren die Rhabdomyolyse über die Serumaktivität von CK zu definieren. So werden Werte zwischen 170 IU∙L-1 und 1700 IU∙L-1 als milde, bis 8330 IU∙L-1 als moderate und darüber hinaus als ausgeprägte Rhabdomyolyse bezeichnet. Im oben genannten Spiegel Online Artikel fanden die Ärzte einen CK Wert von 26 000 IU∙L-1, was damit einer ausgeprägten Rhabdomyolyse entsprechen würde. Die Gefahr einer Nierenschädigung geht aber nicht von der CK, sondern von dem ebenfalls freigesetzten Myoglobin aus. Dieses wird über die Niere ausgeschieden und wirkt in hohen Konzentrationen toxisch auf das Nierengewebe. Derartige Zusammenhänge sind in der Notfallmedizin bekannt und werden unter anderem beobachtet, wenn bei Unfällen große Weichteiltraumata entstehen. Der Kliniker spricht bei einer so hervorgerufenen Nierenschädigung von einer sogenannten Crush-Niere.
Kemmler et al. (Kemmler, Teschler, Bebenek, & Stengel, 2015) widmeten sich in einer kürzlich veröffentlichten Studie der gesundheitlichen Relevanz hoher Muskelschädigungsmarker im Blut nach exzessiver Ganzkörper-EMS. Drei bis vier Tage nach einer 20minütigen EMS-Einheit (85 Hz; 350 ms; intermittierend, bipolar) fanden die Forscher CK-Werte von 28545 ± 33611 IU∙L-1 und eine 40fache Erhöhung der Myoglobinkonzentration von 68 ± 44 µg∙L-1 auf 2706 ± 2194 µg∙L-1, die sich bereits zwei bis drei Tage nach der Stimulation einstellte. Damit lagen die beobachteten Werte im Blut sieben Mal höher als die in der Literatur angegebene toxische Grenze für Myoglobin, welche bei 370 µg∙L-1 liegt (El-Abdellati et al., 2013). Trotzdem konnte die Arbeitsgruppe um Kemmler bei keinem der Probanden Hinweise auf ein akutes Nierenversagen finden. Wie lässt sich das erklären?
Clarkson et al. (Clarkson, Kearns, Rouzier, Rubin, & Thompson, 2006) beobachteten vergleichbares nach 50 exzentrischen Kontraktionen der Ellbogenbeugermuskulatur an 203 Probanden. Trotz massiver CK Erhöhungen von bis zu 80550 IU∙L-1 und Mb Konzentrationen von bis zu 3200 µg∙L-1 fanden die Autoren keine bedeutsamen Beeinträchtigungen der Nierenfunktion. Auch Sinert et al. (Sinert, Kohl, Rainone, & Scalea, 1994) konnten in den von ihnen untersuchten Patienten mit ausgeprägter Rhabdomyolyse (40471 ± 34295 IU∙L-1) keinen Hinweis auf ein akutes Nierenversagen finden. Das steht im Gegensatz zu der in der Literatur beschriebenen 17-40%igen Inzidenz eines akuten Nierenversagens bei Rhabdomyolysen (Akmal, Valdin, McCarron, & Massry, 1981; Ward, 1988). Das könnte darauf hinweisen, dass weitere nephrotoxische Faktoren vorhanden sein müssen, damit sich die befürchtete Komplikation der Myoglobinerhöhung ausbildet. Auch wenn diese Daten zeigen, dass selbst massive Erhöhungen der genannten Muskelschädigungsmarker im Blut ohne gesundheitliche Konsequenzen sein können, bleibt zu berücksichtigen, dass eventuelle Vorerkrankungen der Kunden im EMS-Fitnessstudio die Toleranzschwelle der Niere für Mb deutlich herabsetzen kann. Vor diesem Hintergrund sind derart hohe Markerauslenkungen in jedem Fall aus Sicherheitsgründen zu vermeiden.
Der „Repeated Bout Effect“
Auffällig ist, dass diese hohen Werte meist nur in den ersten Trainingseinheiten erreicht werden. So konnte auch in der oben genannten Studie von Kemmler et al. (Kemmler et al., 2015) gezeigt werden, dass eine EMS-Trainingseinheit nach einer 10 wöchigen Trainingsphase deutlich niedrigere CK Werte hervorruft (906 ± 500 IU∙L-1) als die erste Einheit (17.575 ± 14.717 IU∙L-1). Das macht einen Unterschied von 16669 IU∙L-1. Auch die Myoglobinauslenkung war mit 193 ± 80 µg∙L-1 deutlich niedriger. Man nennt diesen Effekt den sogenannten „Repeated Bout Effect“, welcher eine Art Schutzmechanismus des Körpers vor weiteren Belastungen beschreibt und sich auch bei anderen Trainingsformen beobachten lässt. Der Mechanismus des Repeated Bout Effects konnte zwar noch nicht geklärt werden, es ist jedoch bekannt, dass der Effekt nicht auf die trainierte Muskelgruppe beschränkt ist, sondern auch auf nicht trainierte Muskelgruppen übertragen wird (Starbuck & Eston, 2012). Daraus lässt sich die Empfehlung ableiten, dass die Belastung beim EMS-Training auf jeden Fall langsam gesteigert werden sollte und mit wenigen Muskelgruppen pro Training bei den ersten Einheiten begonnen werden sollte.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass selbst massive CK- und Mb-Anstiege in der Literatur beschrieben wurden ohne, dass sich negative Effekte auf die Nierenfunktion einstellten. Die individuelle Toleranzschwelle der Niere kann jedoch durch bestimmte Vorerkrankungen der Kunden stark variieren, sodass von Ausbelastungen in den ersten Trainingseinheiten dringend abzuraten ist. Dies gilt insbesondere für Ganzkörper-EMS-Anwendungen. Der „Repated Bout Effect“ beschreibt eine Art Gewöhnungseffekt oder Schutzmechanismus der Muskulatur, der dazu führt, dass bei Folgebelastungen deutlich geringere Markeranstiege zu verzeichnen sind, wodurch die Niere vor zu hohen Mb-Konzentrationen geschützt wird. Da der Repea-ted Bout Effect nicht auf die zuvor belastete Muskulatur beschränkt ist, sondern systemisch wirkt, ist darüber hinaus zu empfehlen, bei der ersten Trainingseinheit wenige Muskeln zu stimulieren. Sollten dennoch Symptome, wie starke Muskelschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Verwirrtheit oder eine erhöhte Herzfrequenz in Folge des EMS-Trainings auftreten oder sich der Urin dunkel färben, so muss in jedem Fall ein Arzt konsultiert werden, um schwere Folgeschäden abzuwenden. Diese Warnung gilt jedoch gleichermaßen für andere ausgeprägte Muskelbelastungen wie sie beispielsweise bei hochintensivem Krafttraining oder einem Marathonlauf auftreten.
Dr. med Dr. rer. nat. M. Behringer
geboren 1978 in Neuss, studierte von 1999 bis 2006 Medizin an der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf mit anschließender Approbation als Arzt. Er promovierte neben Medizin (2010) auch in Naturwissenschaften (2012) mit dem Thema „Biomedizinische Grundlagen zum Krafttraining im Kindes- und Jungendalter“. Seit 2007 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Deutschen Sporthochschule Köln, wo er seit 2012 die Abteilung für Muskelforschung leitet. Zudem ist er seit 2007 für das Deutsche Forschungszentrum für Leistungssport (momentum) tätig.
References
Akmal, M., Valdin, J. R., McCarron, M. M., & Massry, S. G. (1981). Rhabdomyolysis with and without acute renal failure in patients with phencyclidine intoxication. American journal of nephrology, 1(2), 91–96.
Bresadola, M. (1998). Medicine and science in the life of Luigi Galvani (1737–1798). Brain Research Bulletin, 46(5), 367–380. doi:10.1016/S0361-9230(98)00023-9
Clarkson, P. M., Kearns, A. K., Rouzier, P., Rubin, R., & Thompson, P. D. (2006). Serum creatine kinase levels and renal function measures in exertional muscle damage. Medicine and science in sports and exercise, 38(4), 623–627. doi:10.1249/01.mss.0000210192.49210.fc
El-Abdellati, E., Eyselbergs, M., Sirimsi, H., van Hoof, V., Wouters, K., Verbrugghe, W., & Jorens, P. G. (2013). An observational study on rhabdomyolysis in the intensive care unit. Exploring its risk factors and main complication: Acute kidney injury. Annals of Intensive Care, 3(1), 8. doi:10.1186/2110-5820-3-8
Finger, S., & Piccolino, M. (2011). The shocking history of electric fishes: From ancient epochs to the birth of modern neurophysiology. New York: Oxford University Press.
Habich, I. (2015). Muskelkraft durch EMS-Training: Gefährliche Stromstöße - SPIEGEL ONLINE. Retrieved from http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/ems-risiken-des-elektrostimulationstraining-a-1024064.html
Kemmler, W., Teschler, M., Bebenek, M., & Stengel, S. von. (2015). Hohe Kreatinkinase-Werte nach exzessiver Ganzkörper-Elektromyostimulation: Gesundheitliche Relevanz und Entwicklung im Trainingsverlauf. Wiener Medizinische Wochenschrift, 165(21-22), 427–435. doi:10.1007/s10354-015-0394-1
Sinert, R., Kohl, L., Rainone, T., & Scalea, T. (1994). Exercise-induced rhabdomyolysis. Annals of emergency medicine, 23(6), 1301–1306.
Starbuck, C., & Eston, R. G. (2012). Exercise-induced muscle damage and the repeated bout effect: evidence for cross transfer. Eur J Appl Physiol, 112(3), 1005–1013. doi:10.1007/s00421-011-2053-6
Ward, A. R., & Shkuratova, N. (2002). Russian electrical stimulation: the early experiments. Physical therapy, 82(10), 1019–1030.
Ward, M. M. (1988). Factors predictive of acute renal failure in rhabdomyolysis. Archives of internal medicine, 148(7), 1553–1557.