Prof. Dr. Kemmler beantwortet die wichtigsten Fragen zu Ganzkörper EMS-Training

Praxis

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Erfahren Sie alles über EMS-Training: wissenschaftlich fundierte Vorteile, Risiken und Zielgruppen. Experten beleuchten Mythen und erklären, wie Ganzkörper-Elektrostimulation effektiv, sicher und individuell anwendbar ist – von Rehabilitation bis Fitness.

Das EMS-Training wird immer beliebter. Die praktische Erfahrung weist das Training als effektiv und sicher aus. Dennoch: Vorurteile und Halbwissen halten sich hartnäckig, obwohl der Einsatz von „Strom“ ursprünglich aus dem Bereich der Medizin und Heilkunde kommt. Heute sind die Wirkungen einer EMS-Anwendung wissenschaftlich evaluiert und eventuelle Risiken begrenzt und kalkulierbar. 

Wer sich also nicht gerne auf Aussagen von Anbietern oder begeisterten Anwendern verlassen möchte, kann heute aktuelle Studien namhafter unabhängiger Institute hinzuziehen.

Seit weit über zehn Jahren erforscht die Universität Erlangen unter der Leitung von Prof. Dr. Kemmler die Anwendungsmöglichkeiten der Ganzkörper-Elektrostimulation. In einem aktuellen Interview haben wir ihn zu wissenschaftlichen Perspektiven, Anwendungsgebieten, Risiken und Handlungsempfehlungen des EMS-Trainings befragt.

Ganzkörper-Elektromyostimulation (WB-EMS) wird oftmals als „Training ohne Anstrengung“ beworben. Wie bewerten Sie diese Aussage?
Prof. Dr. Kemmler: Hmm, das ist eine interessante Frage und hängt davon ab, wie „Anstrengung“ aufgefasst wird. Faktisch ist es integraler Bestandteil der derzeitigen gesundheits-WB-EMS Methodenvariante, dass eine angemessene Stromapplikation die Effekte generiert, sodass der Anteil der willkürlichen Belastung relativ gering bleibt. In der Trainingspraxis bedeutet dies, dass in enger Interaktion zwischen Trainer und Anwender eine angemessen hohe Reizintensität (via Impulsstärke) appliziert werden muss, die durchaus als „anstrengend“ rückgemeldet werden sollte. Insbesondere bei den oft weniger sportaffinen WB-EMS-Anwendern mit entsprechend schwach ausgeprägtem Belastungsempfinden ist dieses Heranführen an eine angemessen hohe Belastung und die Herausbildung einer entsprechenden Sensibilisierung des Körpergefühls die zentrale „Challenge“ für den Trainer.

Kritiker sprechen häufig von geringen bis ausbleibenden Effekten auf Funktionalität und Koordination durch die „künstliche“ Aktivierung des Ganzkörper-EMS-Trainings. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Prof. Dr. Kemmler: Diese Meinung ist durch eine Vielzahl von EMS-Untersuchungen mit signifikant positiven Effekten auf eine Vielzahl von Funktionalitätsparametern wie Kraft und Leistungsfähigkeit inzwischen widerlegt. Bei einer rein passiven EMS-Anwendung mag dieses Argument zweifellos noch zutreffen, in der Trainingspraxis, insbesondere im fortgeschrittenen therapeutischen Einsatz wird EMS überwiegend in der Dynamik, also unter Einsatz funktioneller Bewegungen, durchgeführt. Hier unterscheidet sich übrigens die leistungssportliche von der gesundheitsrelevanten Anwendung. Während im Leistungssport eine hohe willkürliche Aktivierung mit einer moderaten Stromintensität vorherrscht, die eine absolut korrekte disziplinspezifische Ausführung der Bewegung erlaubt, steht in der Frühphase einer Therapiemaßnahme primär die Stromkomponente als Belastungsinstrument im Vordergrund. Dies ändert sich jedoch im Laufe der Therapie, abhängig vom individuellen Leistungsstand des Patienten. Bei älteren Menschen, die neben (funktionellen) Trainingszielen auch die Muskel- und Fettmasse positiv beeinflussen müssen, erscheint ein Mischtraining beider Methoden idealerweise periodisiert mit hypertrophisch orientierten und funktionell orientierten Abschnitten ideal.

Vor einigen Jahren warnte die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN) vor dem WB-EMS-Training. Kann WB-EMS tatsächlich schädlich oder gefährlich wirken?
Prof. Dr. Kemmler: Diese Frage schlägt regelmäßig hohe Wellen in den Medien und verunsichert die Teilnehmer an einem EMS-Training leider massiv. Aus diesem Grund möchten wir diese Frage im Rahmen der Möglichkeiten eines Interviews erschöpfend und angemessen differenziert adressieren. Zunächst ist WB-EMS bezüglich akuter orthopädischer und kardialer Risiken aus unserer Sicht definitiv die Trainingsmethode der Wahl. Ein immer wieder aufgeführtes Risiko der EMS-Anwendung steht in Zusammenhang mit der sogenannten Rhabdomyolyse, vereinfacht einer belastungsinduzierten Beschädigung des Muskelgewebes. Aufgrund seiner hohen Sensitivität gilt CK (Kreatinkinase) als primärer Serummarker einer Rhabdomyolyse. Basierend auf CK-Ruhewerten von unter 200 IE/l wird eine milde Rhabdomyolyse bis zu 10-facher, eine moderate Rhabdomyolyse zwischen 11- und 50-facher und eine schwere Rhabdomyolyse bei über 50-facher Erhöhung der Basiskonzentration definiert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ebenfalls der Hinweis, dass eine große intraindividuelle Varianz der CK-Konzentration bei derselben relativen Belastung besteht. D. h. konkret, dass manche Menschen wesentlich sensibler und mit höherem CK-Level auf eine körperliche Belastung reagieren. Tatsächlich ist WB-EMS durch die große Anzahl an Muskelgruppen, die simultan und im Extremfall supramaximal (also höher als durch willkürliche Innervation) stimuliert werden können in der Lage, eine Rhabdomyolyse zu generieren. Eine ärztlich eng begleitet Untersuchung unseres Hauses zeigte nach EMS-Erstapplikation mit individuell maximal tolerierbarer Reizhöhe sehr hohe Kreatinkinase- und (etwas eingeschränkt) Myoglobin-Werte, die im Mittel – aber nicht bei allen Teilnehmern – im Bereich einer schweren Rhabdomyolyse lagen. Im Einklang mit der vorliegenden Literatur konnten allerdings keinerlei klinische Konsequenten erfasst werden. Ob dieses Ergebnis auf gesundheitlich limitierte Anwender transferiert werden kann, sei allerdings dahingestellt. Ein zentrales Studienergebnis war jedoch, dass im weiteren Verlauf des WB-EMS-Trainings sich bei allen Probanden ein sehr ausgeprägter Konditionierungseffekt zeigte. Tatsächlich wurde nach zehnmaliger EMS-Applikation und wiederum ausbelastendem WB-EMS eine 30-fache Reduktion der CK-Werte, also eine Konzentration im Bereich eines konventionellen Krafttrainings, nachgewiesen. Die Problematik der EMS induzierten Rhabdomyolyse beruht somit weitestgehend auf einer unangemessen hochintensiven Stromapplikation während der initialen Einheiten.
Wir haben in den „Richtlinien zur sicheren und effektiven Anwendung von Ganz-Körper-Elektromyostimulation“ Vorgaben vorgelegt, welche diese Thematik umfassend adressieren.

Ihr Team an der Universität Erlangen forscht seit langem im Bereich des Ganzkörper-EMS und hat maßgeblich an den Richtlinien für einen sicheren und effektiven Einsatz mitgewirkt. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Verhaltensmaßregeln, die ein Anbieter von EMS-Training beachten muss?
Prof. Dr. Kemmler: Aus unserer Sicht stehen Wirkungsgrad und Sicherheit bei der EMS-Anwendung klar im Vordergrund. Wie bereits besprochen ist EMS kein allzeit effektiver und unbedingt sicher anwendbarer Selbstläufer. Tatsächlich ist in höherem Maße als bei anderen Trainingsmaßnahmen eine kompetente und vertrauensvolle Interaktion zwischen Anwender und Therapeut zur Generierung eines bestmöglichen Ergebnisses das zentrale Merkmal einer erfolgreichen und sicheren Therapiemaßnahme. Aus diesem Grund sehen wir bei der Therapie eine 1:1-Betreuung als wichtiges Kriterium an. Bei einem präventiven Training liegt der Betreuungsschlüssel bei max. zwei Trainierenden pro Betreuer.
Daneben ist eine angemessene therapeutische und/oder sportwissenschaftliche Ausbildung des Anbieters wichtig, um über anwendbare Trainingsprinzipien, Kontraindikationen und das Erkennen bestimmter Belastungsparameter bei unterschiedlichen Krankheitsbildern langfristige Erfolge zu sichern. In punkto Kontraindikationen ist die Entwicklung sicher noch nicht abgeschlossen. Insbesondere im therapeutischen und medizinischen Einsatz wandeln sich gerade einige absolute zu relativen Kontraindikationen. Gerade im therapeutischen Segment versprechen wir uns durch Aufklärung und Kooperationen mit Ärzten und Kliniken mehr Sicherheit durch wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse.

Das Herz ist doch auch ein Muskel. Warum wird das Herz von den elektrischen Impulsen der Elektromyostimulation nicht beeinflusst?
Prof. Dr. Kemmler: Wie jeder Muskel kontrahiert sich auch der Herzmuskel, wenn elektrische Signale die Muskelfasern über eine gewisse Schwelle depolarisieren. Auf diese Weise wird über das autonome Reizleitungssystem das Herz zur rhythmischen Kontraktion gebracht. Grundsätzlich kann also auch der Herzmuskel durch externe Ströme beeinflusst oder gestört werden, wie dies bei einem Stromunfall oder bei einer Wiederbelebung mit einem Defibrillator der Fall sein kann. Im Gegensatz zur Steckdose oder einem Defibrillator, welche sehr hohe Spannungen und Stromstärken erzeugen, ist bei einer EMS-Anwendung die Stromstärke sehr gering und der Stromfluss regional begrenzt. Denn zur Aktivierung der Skelettmuskulatur sind extrem geringe Stromstärken ausreichend. Der Haupteffekt bei der Elektromyostimulation mit niederfrequenten Strömen besteht in der Aktivierung der kleinen motorischen Nervenäste in der Nähe der Elektroden. Werden diese durch den externen Strom über eine bestimmte Schwelle depolarisiert, so erzeugen die Nerven ein Aktionspotential, welches sich selbsttätig in Richtung Muskelfasern fortsetzt und diese aktiviert. Dadurch, dass der externe Strom die körpereigene physiologische Erregungsleitung „anstößt“, wird die Muskulatur auch in der Tiefe aktiviert und zu einer kräftigen Kontraktion angeregt. Es tritt dabei aber kein relevanter Stromfluss außerhalb der Skelettmuskeln durch den Brustkorb zum Herzen auf. Dennoch stellen Herzrhythmusstörungen und insbesondere Herzschrittmacher eine Kontraindikation dar, die aus Gründen der Vorsicht strikt eingehalten werden sollte. Die positiven kardiologischen Auswirkungen eines medizinischen EMS-Trainings wurden in einer Studie im deutschen Herzzentrum in Bad Oeynhausen wissenschaftlich belegt.

Funktionelles Training gilt seit einigen Jahren als hocheffektive Methode, um Fitness- und Gesundheitsziele schnell und effektiv zu erreichen. Wie sehen Sie hier den Zusammenhang/die Abgrenzung zum EMS-Training?
Prof. Dr. Kemmler: Der Vergleich ist tatsächlich interessant: Funktionelles Training wird ja oft als das exakte Gegenteil zum EMS-Training dargestellt, da Übungen mit komplexen Bewegungen über mehrere Gelenke und Muskelgruppen im Mittelpunkt stehen, während für EMS, zumindest in der Vergangenheit, immer der Aspekt der Statik und nicht der Funktionalität im Raum stand. Nun wird modernes und insbesondere therapeutisches EMS-Training selten statisch, sondern überwiegend dynamisch appliziert. Gerade Therapeuten bevorzugen bei ihrem individuellen EMS-Training alltagsrelevante Bewegungen über mehrere Gelenke und soweit möglich großer Amplitude. Um die nötige überschwellige Intensität zu generieren, bedient sich das klassische funktionelle Training häufig unterschiedlicher Zusatzbelastungen. Beim EMS-Training wird die Intensität primär über den Stromimpuls geregelt. Letzter Aspekt trägt zu einer günstigeren orthopädischen Verträglichkeit und geringeren Verletzungsgefahr, besonders bei Ungeübten und/oder athletisch weniger Vortrainierten, bei. Aspekte wie geringes zeitliches Budget, Gesundheitsorientierung/gesundheitliche Limitationen, geringe Affinität zu konventionellem Training und exzellent dosierbare Intensitätssteuerung sprechen in diesem Zusammenhang für ein therapeutisch angeleitetes EMS-Training.

Wer ist aus Ihrer Sicht die tatsächliche Zielgruppe für ein Ganzkörper-EMS-Training?
Prof. Dr. Kemmler: Durch das besonders wirbelsäulen- und gelenkschonende Training ohne Schwer- und Druckbelastungen ist das EMS-Training schon frühzeitig und parallel zu einer krankengymnastischen Einzelbehandlung einsetzbar. Die Kombination mit den oben bereits erwähnten alltagsrelevanten funktionellen Übungen verschafft uns eine unerschöpfliche Zielgruppe, die auch im zeitlichen Einsatz unbegrenzt ist. Unter den Vorgaben vom „Leichten zum Schweren“ und vom „Einfachen zum Komplexen“ sprechen wir sowohl alt als jung, trainiert oder untrainiert sowie gesund oder erkrankt/verletzt an. Das EMS-Training ist somit mindestens ebenso umfassend applizierbar wie ein konventionelles Krafttraining. In unserer Forschungsgruppe haben wir uns aktuell zentral auf muskuloskeletale und kardiometabolische Erkrankungen und Konditionen (meist) höheren Lebensalters spezialisiert. Gerade in letzter Zeit tun sich mehr und mehr andere Zielgruppen und Anwendungsgebiete auf. Über einen Forschungsverbund mit anderen wissenschaftlichen und medizinischen Einrichtungen werden wir die EMS-Forschung weiter vorantreiben, wichtige und sinnvolle Anwendungsgebiete identifizieren und in der Zukunft gemeinsam evaluieren. Ich denke, die EMS-Forschung wird sich in den nächsten Jahren international prominenter entwickeln, so dass wir noch spannende Forschungsergebnisse zu diesem Thema erwarten dürfen.


Prof. Dr. Wolfgang Kemmler

Prof. Dr. Wolfgang Kemmler ist Forschungsdirektor am Institut für Medizinische Physik der Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Der Trainings- und Sportwissenschaftler gilt als ausgewiesener Experte in der trainingswissenschaftlichen Interventionsforschung sowie im Bereich alternative Trainingstechnologien mit Schwerpunkt Ganzkörper-Elektromyostimulation.

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